NRZ vom
16. Mai 2011
Nachtisch
im Affenkäfig
Uraufführung
im Klever XOX-Theater
von Andreas Daams
Ute Bergiens
Stück "Hotel im Meer" mit dem Untertitel "Ein Menü in
drei Gängen" ist keine leichte Kost. Es spielt in einem Restaurant irgendwo
im Nirgendwo, an einem jener uralten Theaterorte zwischen Diesseits und Jenseits,
heute und gestern, Mensch und Monster. Im Klever XOX-Theater hatte Regisseur Wolfgang
Paterok zur Uraufführung einen zeitlos-windschiefen Speisesaal auf die Bühne
gehoben. Das Zuschauen machte Lust: nicht aufs Essen, sondern aufs Zerfleischen.
Davon soll noch die Rede sein. Die Handlung: Zwei einander unbekannte Ehepaare
essen miteinander zu Abend. Ihre Konversation erschöpft sich in Plat-titüden,
die sich mitunter taumelnd ins Gegenteil verkehren.Das ist der Teil des Stückes,
in dem das Publikum über das verschüchterte Ehe-paar Ost und das an
seiner eigenen Gut-situiertheit berauschte Ehepaar West noch lachen kann. Denn
noch halten die Herrenmenschen
ihre Ostdeutschen ("wie Neger, nur nicht schwarz") dazu
an, bald mehr zu trinken, bald weniger, erst gefälligst
mir den Fingern zu essen, dann jedoch mit dem Fischbesteck. In der evolutionär
fortgeschrittenen Welt Pöseldorfs (der Herkunft des Westpaars) fährt
man im Frühjahr nach Paris und im Herbst nach Berlin, trifft seinesgleichen
an der Champagnerbar des KDW und beherrscht ansonsten ein ganzes ABC an Beschimpfungen,
von anmaßend bis zeitraubend. Aber
da sind wir schon beim Zerfleischen. Denn die Tyrannei gewinnt an Fahrt. Ehepaar
Ost soll sich ausziehen - "Alle wollen Sie nackt sehen!", schreit die
Westdame und bezieht mit einer Handbewegung das Publikum mit ein. Das ist jetzt
totenstill. Kein Lachen mehr. Zuletzt findet sich Ehepaar Ost im Holzkäfig
wieder, wird vom Ober mit Nachtisch vol-gestopft und von der Westgattin mit Bana-nen
beworfen. Die Rechnung bezahlt man in diesem Hotel mit dem Leben.
Ute
Bergien, Jahrgang 1965, hat mit ihrer Versuchsanordnung einen Bogen geschlagen
von der Groteske über Satire bis hin zum gesellschaftskritischen Zeitstück.
Das Ensemble des XOX-Theaters war von Anfang bis Ende beeindruckend. Dagmar Fischer
und Gerd Walther geben das devote Ost-Ehepaar, das sich kaum gegen die Zumutungen
zur Wehr setzt. Klaus
Gerritzen läuft als überheblicher Widerling zu großer Form auf.
Wirklich fantastisch ist Agnes Bröker als Mittelstandsfurie, die mit erbarmungs-loser
Konsequenz das Spiel weitertreibt. Peter Eckartz mimt den Maitre d'Hotel mit einer
treffenden Mischung aus Arroganz und Servilität. Wolfgang Paterok hat das
eineinhalbstündige Stück flott durchinszeniert. Es ist keine Sekunde
langweilig. Aber es bleibt unversöhnlich. Mit Unbehagen verlässt man
den Zuschauerraum. Gut, wenn Theater das schafft!
Rheinische
Post vom 24. Mai 2011
Absurdes im XOX-Theater
Wolfgang Paterok traute sich mit der Uraufführung
von Ute Bergiens Hotel am Meer an schwere Kost – das absurd-abstruse Stück verlangte
den Schauspielern des ambitionierten Laientheaters alles ab. Ein Lehrstück über
Ost und West und die Abhängigkeit von Menschen.
VON MATTHIAS GRASS
Absurd: Da lassen sich Menschen freiwillig zum Narren machen, ordnen sich unter
bis zur Selbstaufgabe. Da werfen andere Menschen ihre Zivilisation über Bord und
mutieren zu faschistoiden Folterknechten, die auch noch von besserer Rasse faseln
und von den anderen als "Neger - nur nicht schwarz" reden. Ute Bergien serviert
in ihrem Stück ein Menü in drei Gängen über menschliches Verhalten – "Hotel im
Meer" titelt das Stück, das im Klever XOX-Theater jetzt uraufgeführt wurde.
Stoff
für den Restabend
Es ist hartes Stück, das Wolfgang Paterok oben in der alten
XOX-Fabrik im kleinen Theater am lauen Samstagabend den Besuchern servierte. Ein
Stück mit Diskussionstoff für den Restabend: Warum unterwirft sich das eine Pärchen
aus "Nord-Nord-Ost" (wunderbar verhuscht: Dagmar Fischer und Gerd Walther) im
Hotel am Meer dem anderen Paar (herrisch-überheblich Agnes Bröker und Klaus Gerritzen)
aus Süd-Süd-West? Nur weil es eingeladen ist? Weil die anderen vielleicht die
Zeche bezahlen? Weil sie bestimmt Anweisungen geben, gegen die man sich nicht
wehrt? Oder einfach, weil man wie immer das tut, was einem gesagt wird? Antworten
gibt Bergien in ihrem Stück, das sich zunächst wie eine Parabel auf die Wiedervereinigung
liest, nicht. Die muss der Besucher dann selber suchen. Gut so.
Da halten die
Menschen aus Süd-Süd-West zum übertriebenen Wassertrinken an, was
die anderen nicht kennen: "Wir trinken nicht zum Essen", heißt
es zaghaft. Nach der Anweisung: "Trinken Sie, es ist gesund, sonst trocknen
sie aus", trinken sie. Widersprüche werden im Keim erstickt oder gar
nicht erst zugelassen. Nord-Nord-Ost versucht nicht einmal ernsthaft, sich zu
wehren: "Essen Sie ohne Besteck!" - "Aber sie essen ja mit den
Fingern, nehmen sie kein Besteck?", und so werden sie brutal vorgeführt,
nachdem man zuvor brav Floskeln ausgetauscht hat. Das Stück eskaliert, wird
abstrus-absurd. Das verhuschte Ost-Pärchen findet sich (fast) nackt und preisgegeben
im Käfig. Sie werden mit Petit fours gestopft, erniedrigt, mit Bananen beworfen.
Während ihre "Gastgeber" hysterisch lachend ausflippen (großartig:
Agnes Bröker) - und fürchterlich Angst im Dunkeln haben.
Es sei ein Spiel, sagt der Kellner. Ein Spiel von der Unterwerfung
von Menschen, die sich anderen Menschen unterlegen fühlen, mehr als ein Stück
Geschichte der Wiedervereinigung. Es ist ein ewiges Spiel, wie der Kellner (prima:
Peter Eckartz) unmiss-verständlich klar macht - auch wenn am Ende des Stücks
ein Pärchen aussteigen will.
Bergien serviert die Groteske in drei Gängen
bis zum Nachtisch im Käfig. Paterok hat die Tische und Stühle des Restaurants
für das schräge Menü auf schiefe, unsichere Ebenen gestellt. Alles
kann kippen. Auch die Macht der Mächtigen wie sich am Ende herausstellt.